Die Welt – 15/7/2015

"Tsipras ist eine einzige Katastrophe"

Vor der entscheidenden Abstimmung im Parlament wendet sich Tsipras an sein Volk und erklärt, er werde ein Abkommen umsetzen, an das er nicht glaubt. Athen schwankt zwischen Entsetzen und Hoffnung.

"Ich kann noch immer nicht glauben, was ich da gestern gehört habe", sagt Antonis Trifilis. "Alexis Tsipras ist eine einzige Katastrophe." Trifilis, der unter anderem für die griechische Zeitung "To Vima" als politischer Kommentator arbeitet, ist nach einem fast zweistündigen TV-Interview mit dem griechischen Ministerpräsidenten fassungslos. "Unser Premier verspricht in Brüssel, er werde in Athen Verantwortung für eine Einigung übernehmen, über die er zu Hause sagt, dass er nicht an sie glaubt."

Vor einer entscheidenden Abstimmung im griechischen Parlament hatte sich Tsipras am Dienstagabend im Staatsfernsehen an sein Volk gewandt. Er bezeichnete die von den Gläubigern durchgesetzten Forderungen als "irrational", rechtfertigte aber gleichzeitig seine Zustimmung zu den drastischen Sparmaßnahmen. Bei den Verhandlungen in Brüssel sei für Griechenland "nichts Besseres" zu erreichen gewesen. Tsipras' Einlenken war die Voraussetzung dafür, dass die Geldgeber überhaupt zu Verhandlungen über ein neues Hilfspaket von bis zu 86 Milliarden Euro bereit waren.

Damit die Gespräche über frische Kredite beginnen können, muss das Parlament in Athen einige der harten Auflagen schon am Mittwoch verabschieden. Dazu gehören eine Erhöhung der Mehrwertsteuer, Rentenreformen und ein Treuhandfonds, der staatlichen Besitz veräußern soll. Eine ganze Reihe von Abgeordneten, die dem linken Bündnis Syriza von Tsipras angehören, sind nicht bereit, das Reformpaket mitzutragen. Von mindestens 30 Parlamentariern ist die Rede.

"Tsipras' Appell im Fernsehen an diese Abtrünnigen wird an deren Ablehnung nichts ändern", glaubt Trifilis. Der Premier habe versucht, sich als Opfer von Erpressung darzustellen, schimpft er weiter. Am Ende könne sich Tsipras so aber auch nicht aus der politischen Verantwortung stehlen für eine Entscheidung, für die er im Parlament um Zustimmung wirbt.

Die Enttäuschung ist groß in Athen, aber nicht alle sind vom Versagen ihres Regierungschefs überzeugt. "Am Ende geht es nicht darum, woran Tsipras glaubt, sondern darum, was er umsetzt", sagt George Pagoulatos, Professor für Europäische Wirtschaft und Politik an der Universität von Athen. Pagoulatos hat keine Zweifel daran, dass der griechische Regierungschef sein Land in der Euro-Zone halten wolle. "Deshalb ist Tsipras in Brüssel den harten Kompromiss eingegangen, er wird ihn auch durch das Parlament bringen."

Die Empörung über Tsipras' Interview-Äußerungen findet der Professor naiv. Der Ministerpräsident könne nicht öffentlich erklären, dass er von den Maßnahmen inhaltlich überzeugt sei. "Das würden ihm die Linken nicht abnehmen", so Pagoulatos. "Aber Tsipras hat in dem Interview ausführlich dargelegt, weshalb die Maßnahmen trotzdem notwendig sind, um eine größere humanitäre Katastrophe in Griechenland abzuwenden."

Was die Europäer als einen weiteren ideologischen Hakenschlag ansehen mögen, hält Pagoulatos für taktisches Geschick. "Tsipras hat durch die Äußerungen nicht seine politische Glaubwürdigkeit verloren, sondern sie in den Augen seiner linken Wählerbasis bewahrt." Durch den offenen Umgang mit den politischen Notwendigkeiten habe der Premier sich als Pragmatiker erwiesen.

"Es ist sein Nixon-goes-to-China-Moment", glaubt der Professor und beschreibt damit die historische Erfahrung, dass überraschende Kehrtwenden häufig von jenen Politikern eingeleitet werden, von denen man es am wenigsten erwartet. So wie US-Präsident Richard Nixon, der 1972 China besuchte und damit das Verhältnis zwischen den beiden verfeindeten Nationen auf eine vollkommen neue Basis stellte.

Interessant an der politischen Gemengelage im Athen dieser Tage ist vor allem eine Zahl: Die Mehrheit der Griechen steht offenbar auch nach dem Kompromiss in Brüssel, nach zwei Wochen Erfahrung mit geschlossenen Banken und Kapitalverkehrskontrollen, hinter Alexis Tsipras. In einer neuen Umfrage erklären 59 Prozent der Befragten ihn zum beliebtesten Politiker.

"Wir standen noch nie näher am Abgrund"

"Die europäischen Partner sollten anerkennen, dass Tsipras das Reformpaket mit Unterstützung von fast zwei Drittel der Abgeordneten durchs Parlament bringen wird", sagt Pagoulatos und beschreibt die politischen Umstände als "die günstigen, die wir je für Reformen hatten". Keiner Vorgängerregierung sei gelungen, was Tsipras nun anstrebe: eine breite, nationale Koalition für dringend notwendige Veränderungen.

Wird die realpolitische Pragmatik in Zeiten der Krise jedoch tatsächlich bis hin zur Umsetzung der Reformen reichen? Antonis Trifilis, der politische Korrespondent, kann sich das nicht vorstellen. "Alexis Tsipras ist doch immer noch davon überzeugt, dass er recht hat und Europa grundlegend verändern kann", glaubt er. George Pagoulatos, der Politikprofessor, widerspricht. "Wenn die Umsetzung der Reformen scheitern sollte, dann nicht an Alexis Tsipras, sondern am mittelmäßig kompetenten Personal von Syriza."

Deshalb könne eine Kabinettsumbildung, von der die meisten politischen Beobachter ausgehen, für Stabilität sorgen. Denkbar sei auch eine Minderheitsregierung, wenn Tsipras die radikal Linken in seiner Partei verliert und deshalb fortan auf die Unterstützung der Opposition angewiesen ist. "Wir standen noch nie näher am Abgrund", sagt Pagoulatos. "Wenn sich politische Vernunft überhaupt je in Griechenland durchsetzt, dann ja wohl jetzt."

http://www.welt.de/politik/ausland/article144040728/Tsipras-ist-eine-einzige-Katastrophe.html

 

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